Montag, 17. Dezember 2012

Geschichte Teil 3

Ich soll euch ausrichten, dass die Veröffentlichung des nächsten Teils ein bisschen länger dauern kann. Viel Spaß.



Räder rauschten über den Asphalt. Ich stand am Geländer der Autobahnbrücke und beobachtete, wie die Autos unter mir hindurchschossen. Nach der Schule war ich nicht wie gewohnt nach Hause gegangen, sondern war planlos durch die Stadt gefahren und schließlich zur alten Autobahnbrücke gekommen, die am Stadtrand  lag. Ich kam manchmal hierher, weil ich das Geräusch der Autos mochte, die entweder in die Stadt hinein oder aus ihr herausfuhren. Ich mochte auch die Ruhe, die die Brücke ausstrahlte. Seit vor ein paar Jahren eine neue Brücke ein paar Kilometer entfernt gebaut worden war, wurde sie nur noch von sehr wenigen Menschen genutzt und ich hatte erst zweimal jemand anderen auf der Brücke getroffen. Das eine Mal war es ein dementer alter Mann gewesen, der sich verlaufen hatte, das andere Mal war es ein Fuchs.
Es war schon spät geworden und die schwächer werdenden Sonnenstrahlen spiegelten sich in der grauen Autobahn und in den Dächern der Autos wieder. Die Autobahn verlor sich im Horizont, während sie auf der anderen Seite weiter in die Stadt hineinführte. Um diese Zeit waren viele Autos unterwegs, der Feierabendverkehr hatte bereits begonnen und viele Leute fuhren wieder nach Hause. Kühler Wind wehte mir ins Gesicht, ein Vorbote des Winters, der wohl bald einbrechen würde.
„Nicht schlecht, dieser Ort, was?“, fragte eine Stimme.
In Alpträumen hat man manchmal dieses seltsame Gefühl, kurz bevor man aufwacht. Noch bevor man den eigentlichen Schrecken wirklich realisiert hat, ist man bereits wie gelähmt.
Ungefähr so fühlte ich mich, als ich mich entgeistert, fassungslos und vollkommen überrumpelt zu der Person umwandte, die hinter mir auf der Brücke stand und den Sonnenuntergang beobachtete.
Es war der Mann aus der Bahn, der, den ich tags zuvor mit der Taube gesehen hatte. Er trug dieselbe furchtbare Mütze auf dem Kopf, hatte heute aber seine grüne Jacke gegen einen dunkelgrauen Mantel und einen Schal getauscht.  Ich hatte ihn weder kommen gehört, noch gesehen, als ich die Brücke betreten hatte.
„Entschuldige, wenn ich dich gestört habe.“, fügte der Mann hinzu, als er meinen Blick bemerkte.
„Was wollen Sie?“, war das Erste, was ich herausbrachte.
„Oh, ich komme manchmal hierher, sehe mir die Autos oder den Sonnenuntergang an…“
„Ich habe Sie hier aber noch nie gesehen.“
„Nun, ich sehe dich hier auch heute das Erste Mal, dann haben wir ja etwas gemeinsam.“   
Der Mann stellte sich nun an den Platz neben mich und stützte sich mit den Armen auf das Geländer, so, wie ich es bis eben noch gemacht hatte. Er hielt inne und sah der untergehenden Sonne zu, die bereits nur noch zur Hälfte zu sehen war. In der kühlen Luft konnte ich seinen Atem aufsteigen sehen.
Mir fiel auf, dass er wohl doch etwas älter sein musste, als ich ihn beim Ersten Mal eingeschätzt hatte, wie alt genau konnte ich allerdings immer noch nicht sagen. Ich überlegte, ob ich ihn einfach ignorieren oder doch lieber nach Hause gehen sollte, da sprach der Mann plötzlich weiter:
„Ich kann dir helfen, Martin.“
Er drehte sich zu mir um.
„Wenn du möchtest, gibt es einen anderen Weg.“
Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich drehte mich um und rannte. Ich wollte den Mann nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihm sprechen, ihm nicht mehr zuhören. Ich rannte die Brücke hinunter, den Weg entlang bis zur Station. Ich drehte mich nicht um und hielt nicht an, bis ich die Stufen der Haltestelle hochgerannt war und völlig außer Atem am Gleis stehen blieb.

Montag, 10. Dezember 2012

Die Geschichte Teil 2



Das Namensschild an der Klingel unserer Wohnung hing schief. Jemand hatte es mit Klebestreifen über das alte Namensschild geklebt, das  Resultat eines hastigen, übereilten Umzuges, war aber niemals zurückgekommen, um die Arbeit zu vollenden. Ich hatte mir seit Wochen vorgenommen, ein neues Namensschild auszudrucken, um es diesmal richtig zu befestigen, aber irgendwie hatte  ich mich nie dazu durchringen können und so blieb die Klingel, wie sie war.  Die Wohnung lag im ersten Stock des Altbaus, dessen beste Tage, falls er denn jemals solche gesehen hatte, fern in den Tiefen einer anderen Epoche schlummerten.  Ich schloss die Tür auf und ging durch den schmalen Flur in mein Zimmer, wo ich mich meiner Schultasche und meiner Jacke entledigte. Danach ging ich wieder zurück in den Flur und klopfte leise an die Tür zum benachbarten Zimmer. Da ich keine Antwort erhielt öffnete ich sie eine Spalt breit und spähte in den kaum beleuchteten Raum.
 Meine Mutter lag schlafend in ihrem Bett, die eine Hand hielt noch immer ein Blatt, von dessen Sorte einige weitere verstreut auf dem Schreibtisch lagen.
Als nächstes schaute ich in das Zimmer meines Bruders.
Mein Bruder saß auf dem Boden und spielte an seiner alten Play Station 2. Seine Schultasche hatte er neben dem Bett abgestellt. Er schaute nicht auf, als ich den Raum betrat.
„Hast du schon was gegessen?“, fragte ich kurz.
Tim spielte weiter unbeeindruckt an seiner Konsole. Ich erkannte das Spiel als eines seiner alten Fantasyspiele wieder. Manchmal spielten wir zusammen, in der letzten Zeit war es dazu aber immer seltener gekommen.
Ich verließ das Zimmer und betrat unsere kleine Küche, machte mich daran Spaghetti in einen Topf voll Wasser zu geben und etwas Milch mit dem Soßenpulver zu verrühren. Eigentlich, dachte ich, ist es erstaunlich, wie lange man überleben kann, ohne auch nur den leisesten Hauch von Kochkünsten zu besitzen. In der letzten Zeit waren die meinen voll auf ihre Kosten gekommen und ich hatte das ganze Repertoire von Fertigpizza über andere Tiefkühlkost bis hin zu gekauftem Chinesischen Imbissessen auffahren müssen. Und doch lebte ich noch.
Immerhin, Spiegelei konnte ich inzwischen machen. Und Kartoffeln und Reis. Und Spaghetti.
Nachdem ich gegessen hatte, ging ich kurz in mein Zimmer, nahm meinen MP3-Player und meine Stoffjacke und machte mich auf den Weg in die Stadt.

Der Comicladen an war etwa 10 Minuten von unserer Wohnung entfernt. Ich hatte ihn einmal entdeckt, als ich noch relativ neu in der Stadt war und mich, nachdem ich eine Station zu früh ausgestiegen war, hoffnungslos verlaufen hatte. Comics waren zwar das Aushängeschild des Geschäfts, man bekam aber auch eine riesige Auswahl an diversen Sammelkarten, Manga, Fantasy- und Science-Fiction-Literatur, Würfelspielen und Sammelfiguren, sowie einige andere Dinge, die je nach Jahreszeit und Stimmung des Ladenbesitzers wechselten. Was den Laden in meinen Augen jedoch am meisten auszeichnete, war eine kleine Sitzecke im hinteren Teil des Geschäfts.
Die einzigen beiden Menschen, die mehr Zeit im Laden verbrachten als ich, waren ein Junge namens Vincent und der Ladenbesitzer, Herr Horowitz. Vincent war ein paar Jahre älter als ich und gehörte quasi zur Innenausstattung des Comicladens dazu. Er las eher Fantasy-Romane als Comics, seine größte Leidenschaft galt aber dem Sammeln verschiedener Sammelkartenspiele, allen voran Myth’93 („Man spricht es Myth ninety-three, nicht Myth Dreiundneunzig, ok??“), welchem er die meiste Aufmerksamkeit widmete und von dem er die meisten Karten besaß, da „es als einziges von allen Spielen die taktischen mit den strategischen und den Rollenspielelementen verbindet!“, so Vincent.
Leider war die Produktion von Myth’93 vor zwei Jahren eingestellt worden, was Vincent nie wirklich überwunden hatte. Wann immer ich den Laden besuchte, fand ich ihn entweder in der Sitzecke am Tisch über einem neuen Deck brütend oder vor dem Laden vor, während er eine Zigarette rauchend in einem Roman las. Herr Horowitz war ein älterer Herr, eigentlich zu alt, wie ich fand, um zu dem Ladeninhalt zu passen, der kein Problem damit hatte, dass ich mir in der Sitzecke einen Comic nach dem anderen durchlas, selten jedoch tatsächlich einen kaufte.
Herr Horowitz las selbst keine Comics, auf jeden Fall hatte ich nie gesehen, dass er je einen gelesen hätte, schien aber trotzdem jedes Mal zu wissen, welcher Comic zu welchem Kunden passte, der seinen Laden betrat und hatte immer eine neue Empfehlung für mich auf Lager, falls ich mir einmal unsicher war, was ich als nächstes lesen sollte. Abends rauchte er manchmal vor seinem Laden Pfeife, während er sich mit Vincent unterhielt, allerdings nie falls noch Kundschaft in der Nähe war.
Als ich den Laden betrat schaute Vincent von seinen Karten auf, die er Tabellenartig auf dem Tisch der Sitzecke ausgebreitet hatte und begrüßte mich mit einem kurzen, konzentrierten Nicken. Herr Horowitz schien in einem kleineren Raum hinter dem Ladentisch mit dem Zählen einiger Comichefte beschäftigt zu sein. Ich ließ mich auf einen der Sessel fallen und zog eine Ausgabe von The Uncanny X-Men aus einem Regal.
Die Welt verschwand zwischen Abenteuern von Scott Summers und  Professor Xavier.

Sonntag, 2. Dezember 2012

Die Geschichte Teil 1

Erster Teil einer längeren Geschichte. Verfasser anonym. Viel Spaß.



Jetzt hör mir mal zu, Junge! Die Bahn hier, fährt immer in dieselbe Richtung. Sie hält nicht für dich an, sie hält für Geld an. Sie führt dich nicht zu deinem Ziel, sie hält dort an, wo der Großteil der Leute hin möchte. Und das, Junge, das ist fast immer nicht dort, wo du hin möchtest, oder?

Wo möchte ich eigentlich hin?


I

Regen rann an den kalten Scheiben des Waggons entlang und bildete graue Schlieren auf dem bewölkten Himmel über der Stadt. Ich saß, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, in einem nur spärlich besetzten Abteil auf dem Weg nach Hause. Durch die Scheibe sah ich die Stadt langsam vorbeigleiten, still und ruhig, nur hier und da waren Menschen auf den ansonsten leeren Straßen zu sehen. An solchen Tagen schien der Regen sich durch die Decken auf die Gemüter der Leute zu legen, sie einsam und ruhig zurückzulassen, um dann wieder im Boden zu verrinnen.
Die Bahn wurde langsamer und hielt schließlich an der nächsten Station. Zwischen der Haltestelle nahe meiner Schule und der, von der es nur noch rund fünf Minuten Fußweg bis zu unserer Wohnung waren, gab es eine Hand voll anderer Stationen und so dauerte die Fahrt etwa zwanzig Minuten. Einige Fahrgäste standen auf und verließen die Bahn in die eine oder andere Richtung.
Auf dem Gleis warteten bereits neue Passagiere, steckten ihre Handys weg oder warfen ihre halbaufgerauchten Zigaretten auf das Gleis. Ich sah eine  junge Frau, die ungeduldig in ihrer Handtasche kramte, einen Jungen mit gestylten Haaren und Markenkopfhörern und dann sah ich ihn. Ich schätzte den Mann auf um die 40, auch wenn ich das eigentlich nicht mit Sicherheit sagen kann, er trug eine ausgeblichene, dunkle Hose und eine ebenso ausgeblichene, dunkelgrüne Jacke über einem grau-blauen Pullover. Auf dem Kopf hatte er etwas, dass vor ein paar Jahren wohl einmal eine Schiebermütze gewesen war, jetzt glich es eher einem Fetzen. Als sich die Türen öffneten, griff er in die Innenseite seiner Jacke und zog etwas Großes, Graues darunter hervor.
Es war eine Taube. Überrascht beobachtete ich den Mann. Der Vogel blieb ruhig auf seiner Hand sitzen, während er selbst keine große Sache daraus zu machen schien. Ich blinzelte. Die Taube war von der Hand des Mannes verschwunden, stattdessen lief sie nun einige Meter entfernt auf dem Bahnsteig umher. In den Händen des Mannes befand sich nun eine Zeitung, die er jedoch bereits zusammenfaltete, um sich auf den Weg zur Bahn zu machen. Vollkommen verdutzt starrte ich den Mann an, der hinter der Frau den Waggon betrat und sich auf einem Stuhl im Eingangsbereich niederließ. Ich starrte weiter. Als der Mann auf einmal seinen Kopf wendete und mir in die Augen schaute, wurde ich mir urplötzlich meines Blickes bewusst, der wohl eine Mischung aus kompletter Fassungslosigkeit und Verwirrung widerspiegelte und konzentrierte mich sofort auf den an der Decke gezeichneten Fahrplan, den ich schon seit einer halben Ewigkeit auswendig kannte, seit… , nun, schon seit Langem.
Die Türen schlossen sich und die Bahn glitt langsam vom Gleis der Station, die Werbeplakate und kahlen Bahnhofswände wurden wieder von Altbauten und Alleen abgelöst, all die Häuser und Straßen, die ich durch die Fenster der Bahn nun schon tausendmal gesehen hatte, von denen die Meisten mir jedoch immer noch fremd vorkamen. Ich verlor mich wieder in Gedanken, auch wenn mich der seltsame Anblick der Taube in der Hand des Mannes nicht wirklich loslassen wollte. Als die Bahn schließlich an der Haltestelle hielt, an der ich aussteigen musste, warf ich im Vorbeigehen noch einmal einen Blick auf den Sitzplatz des Mannes.
Er war leer. Auf dem Platz lag stattdessen eine einsame, winzige Taubenfeder.